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“Man muss die Figuren immer ernst nehmen”

ADRIAN ERÖD IM GESPRÄCH MIT DANIEL ENDER

Daniel Ender: Herr Eröd, die Geschichte Ihrer Familie ist mehrfach mit den Tragödien des 20. Jahrhunderts verbunden. Inwieweit hat Ihre Herkunft für Sie Bedeutung?

Adrian Eröd: Es spielt insofern eine Rolle, als ich wahrscheinlich durch die Geschichte meiner Familie, vor allem durch die Geschichte meines Vaters, sensibilisierter bin als andere aus meiner Generation. Denn bei mir ist es mehr als das, was man in der Schule gelernt hat. Was wir inzwischen alle wissen, worüber gesprochen werden muss, war zwar bei uns zu Hause nie ein Thema, aber ich wusste es: Die frühere Erinnerung ist die, dass mein Vater 1956 aus Ungarn nach Österreich gekommen ist. Dass ein Teil seiner Familie, unter anderem sein älterer Bruder, im KZ umgebracht wurde, wurde in meiner Erinnerung erst später thematisiert, aber nie als großes Memento Mori behandelt. Es war einfach eine Tatsache. Ich bin da sensibilisierter, aber ich würde nicht sagen, dass es mein Leben im Alltag bestimmt.

D. E.: Im Rahmen der Wiener Festwochen singen Sie heuer den Liederzyklus Schwarzerde (nach Ossip Mandelstam) Ihres Vaters Iván Eröd.

A. E.: Dass ich das tun darf, freut mich sehr — auch dass ein Stück von meinem Vater so prominent vertreten ist. Ich habe zwar Musik von ihm gesungen, aber eher bei Liederabenden in etwas kleinerem Rahmen. Wenn ich aber das Stück singe, macht es für mich keinen Unterschied, ob es von meinem Vater oder von jemand anderem geschrieben wurde. Ich lerne es deswegen nicht genauer oder schlampiger oder mit mehr Emotion. Aber es ist natürlich, von den Umständen her, etwas Besonderes – auch dass es etwas Ernstes von ihm ist: Denn ihn kennt man eher als „leichteren” und publikumsfreundlichen Komponisten. Dass es einige tiefere und dunklere Werke von ihm gibt, wissen nur wenige, weil er ja auch in der Öffentlichkeit kein zurückgezogener, griesgrämiger Mensch ist, sondern eher offen und fröhlich wirkt.

D. E.: Hat sich der Beruf des Vaters stärker auf Ihren Werdegang ausgewirkt?

A. E.: Wahrscheinlich, aber nie bewusst. Es war eher so, als ich angefangen habe, dass es über meine Mutter ging. Sie hat an der Grazer Oper eine Regieassistenz gemacht: Weil da ein Regisseur war, der nicht Deutsch konnte, hat sie, als gebürtige Französin, als Dolmetscherin fungiert. Für eine szenische Version von “Iwan der Schreckliche” von Prokofiev wurde ein Sohn gebraucht, ein Dmitri. Da war ich elf, und meine Mutter hat mich gefragt, ob mich das interessieren würde; so bin ich in die Oper gekommen. Dann war ich im Kinderchor, habe Soli gesungen, und so hat mich der Virus gepackt. Natürlich habe ich in der Familie immer Musik um mich gehabt, aber das war eher eine Selbstverständlichkeit als ein Auftrag. Das kam erst später, und zwar über die Tatsache, dass ich eher Theater machen wollte als Musik. Mit achtzehn habe ich noch Sprechtheater gemacht; da war es für mich noch nicht entschieden, ob ich Sänger oder Schauspieler werde. Das Wichtige war die Bühne. Darüber, dass es sich dann in Richtung Gesang entwickelt hat, bin ich jetzt natürlich froh.

D. E.: Wie kam es dann dazu, dass in Ihrer Ausbildung das Lied im Zentrum stand?

A. E.: Es stand gar nicht so im Zentrum. Damals gab es in den ersten vier Jahren im Grundstudium keine Spezialisierung. Ich habe dann auch die Opernklasse besucht. Natürlich war Walter Berry ein prägender Lehrer, deshalb war Lied und Oratorium im Vordergrund. Nur mein Diplom habe ich in der Liedklasse abgelegt und nicht auch noch in Oper. Es war also schon damals nicht so, dass das Lied dominiert hätte; auch mein erstes Geld habe ich mir als Opernsänger verdient. Die ersten Engagements waren schon am Ende der Studienzeit an der Kammeroper, dann kam der Billy Budd an der Neuen Oper Wien („Idealpartie”, vgl. ÖMZ 51/12, S. 863 f.). Dass das Lied im Studium etwas präsenter war, war aber insofern gut, als man später, wenn man im Opernbetrieb ist, nicht mehr so viel Zeit hat, sich damit zu beschäftigen.

D. E.: Das Lied ist für Sie wichtig geblieben — für Opernsänger nicht selbstverständlich.

A. E.: Das stimmt. Für mich ist es sehr wichtig, dass ich die Balance zwischen Oper und Podium habe. Die Schwerpunkte und Anforderungen sind völlig unterschiedlich, und gleichzeitig ist es sehr wichtig, weil das Lied der Oper hilft – und umgekehrt. Da versuche ich schon, ein Gleichgewicht zu halten, auch wenn das Pendel auch aus ganz profanen Gründen oft zugunsten der Oper ausschlägt. Denn die Oper ist mein Hauptarbeitgeber, das ist die Basis.

D. E.: Welche Tugenden kann ein Liedsänger der Oper mitbringen? Wortdeutlichkeit?

A. E.: Ja, obwohl die eigentlich in beiden Bereichen gleich wichtig ist.

D. E.: Es tut beim Lied viel mehr weh, wenn sie vernachlässigt wird.

A. E.: Mir tut es in der Oper auch weh. Es wird vielleicht eher geduldet, ist aber genau so wichtig. Bei den Meistersingern habe ich wieder gesehen, wie Thielemann — ähnlich wie Muti, wenn er Cosi einstudiert — fast nur am Text arbeitet. Daraus ergibt sich logisch, was er musikalisch will. Aber es ist klar, dass man sich beim Lied — ohne Verstecken hinter Kostüm und Orchester — mehr auf die Stimme und das Wort konzentrieren kann, weniger auf die Deutlichkeit als auf die Ausdeutung, weil man mit viel mehr Schattierungen und Farben arbeiten muss — das ist das, was für die Oper hilft. Das ist natürlich ein wesentlich filigraneres Arbeiten als in der Oper, wo eher der „große Pinsel” zum Einsatz kommt. Umgekehrt ist dieses Sich-über-die-eigene-Stimme-Freuen, wie mein Lehrer gesagt hat, etwas, was leicht verloren gehen kann, wenn man immer nur Lied macht. Nur singen und sich freuen, wie das klingt, und den Klang genießen, auch rundherum den Orchesterklang — das ist etwas, was es nur in der Oper gibt: auch das etwas Exhibitionistische, was auch das Publikum bis zu einem gewissen Grad haben will. Das hilft umgekehrt dem Lied.

D. E.: Sie haben die Meistersinger angesprochen, in denen Sie kürzlich an der Staatsoper den Beckmesser gegeben haben. Wie sehen Sie diese Figur?

A. E.: Er ist auf jeden Fall kein Komiker. Wenn man es überspitzt formuliert, ist er die große tragische Figur dieser Oper, weil er ein verbohrter Sonderling ist, der er sicher nicht werden wollte. Die Boshaftigkeiten, die ihm im Laufe des Stückes auskommen, geschehen aus seiner Verzweiflung heraus und nicht, weil er ein böser Mensch wäre. Eigentlich muss er wesentlich mehr einstecken, als er ausgeteilt hat und wird völlig grundlos von David niedergeprügelt, wegen eines Missverständnisses, und was Sachs im dritten Akt mit ihm macht, ist ja auch nicht gerade eine Nettigkeit. Komisch wird es, wie bei den großen Moliere-Figuren, die ja auch an sich keine komischen Menschen sind, durch die Situationen, in die er kommt. Die ganze Geschichte hat ja keinen Sinn, wenn Beckmesser nicht von an Anfang an als Konkurrent ernst genommen werden kann. Wenn er von Anfang an nur lächerlich ist, ist das nicht nur problematisch, sondern falsch. Er könnte nicht Stadtschreiber und Merker sein, wenn er nicht wirklich ein gebildeter Mensch wäre. Die Tradition, dass er ein Kasperl ist, ist aber ohnehin im Zurückgehen. Das wurde in Wien auch nach dem Krieg durch einzelne Persönlichkeiten geprägt, aber in den letzten Jahren hat sich das geändert. Dadurch wird dieses Bild zurechtgerückt. Bei Wagner ist aber auch ganz klar, das Beckmesser der „Artfremde” ist, der eliminiert werden muss, um es in der späteren Diktion zu sagen. Das hatte er eindeutig im Hinterkopf, dass Beckmesser mit den ganzen antisemitischen Vorurteilen der Zeit ausgestattet ist, sowohl als Typ, vom Text her, als auch musikalisch. Das ist schon auch eine Tatsache. Nur bringt es nichts, das in einem unpassenden Rahmen noch eigens herauszustreichen. Da müsste die ganze Inszenierung so sein, dass das klar wird, wobei die Gefahr besteht, dass man über das Ziel hinausschießt.

D. E.: Ich habe es in dem traditionellen Rahmen umso berührender empfunden, dass man mit Ihrem Beckmesser Mitleid empfinden konnte.

A. E.: Von einem Regisseur habe ich einmal etwas ganz Wichtiges gelernt: Ganz egal, welche Figur man spielt, man muss sie verteidigen. Ich als Sänger und Schauspieler kann lächerlich sein, aber nur weil die Figur so ist, aber nicht, indem ich dem Publikum zeige: Diese Figur ist lächerlich. In dem Moment würde ich die Figur verraten. Auch wenn es eine komische Figur ist, muss man sie ernst nehmen.

D. E.: Aufgrund Ihres Fachs haben Sie vor allem lyrische und komische Partien verkörpert — aber es gab auch einige sehr ernste wie die Titelfigur in Wolfgang Rihms Jakob Lenz. Welche anderen Rollen waren oder sind wichtig für Sie?

A. E.: Ich freue mich sehr, dass ich nächstes Jahr wieder Pelleas singe und hoffe, dass auch Billy Budd wieder kommen wird. Aber in meinem Fall gibt es nicht so viele ernste Rollen. Jakob Lenz, den ich sehr gerne gesungen habe, war da ein Extremfall. Diese Oper ist so stark, dass alles drin ist: das Introspektive, das völlig Durchgeknallte. Das ist eine fantastische Herausforderung. Da lernt man schon viel. Ich bin aber niemand, der versucht, die eigenen Abgründe in die Rolle zu bringen, weil ich nicht so sehr Method Acting betreibe, sondern eher Handwerk. Egal, wie tragisch die Figur ist oder wie verzweifelt die Situation, muss ich in jedem Augenblick die Kontrolle behalten. Völlig in die Figur zu versinken, das könnte ich nicht. Beim Singen weiß man ja nie, was passiert. Wenn man beispielsweise merkt, dass die Stimme müde wird, muss man die Kontrolle über das Singen behalten können.

D. E.: Anfang Juni wirken Sie auch noch in einer Staatsopern-Premiere mit: Strauss’ Capriccio, in dem Sie den Olivier singen.

A. E.: Diese Partie habe ich schon in Linz gesungen. Der größte Reiz ist jetzt dabei das Team: dass Renee Fleming wieder in Wien singt, freut alle, mich eingeschlossen. Sonst sind wir fast en famille, mit Angelika Kirchschlager , Michael Schade und Bo Skovhus, mit dem ich jetzt — nach der Silvester-Fledermaus — wieder zusammen auf der Bühne stehe. Sonst singt ja meist entweder er oder ich. Das Stück selbst ist einmal etwas Anderes. Ich mag es sehr gern, und in Wien hat es eine gewisse Tradition, aber es ist auch kein ganz leichtes Stück. Der Text ist nicht ganz einfach, die Musik auch nicht Rosenkavalier. Bis auf die Mondscheinmusik am Schluss ist es eigentlich die ganze Zeit ein Dialogstück …

D. E.: … das als problematisch gilt, auch wegen seiner Entstehungszeit 1942.

A. E.: Es ist natürlich sehr kopflastig; und im zeitlich-politischen Umfeld kann man es als problematisch ansehen, weil es eine gewisse Art von Verleugnungstaktik war, dass Strauss in seinem Haus saß und so ein Stück schrieb, während rundherum Tragödien passierten. Umgekehrt könnte man natürlich viel weiter gehen und fragen, ob es überhaupt wichtig ist, was wir auf der Bühne machen, ob das Auswirkungen hat auf das „richtige Leben” — so weit will ich mich aber gar nicht vorwagen. Aber das kann auch nicht die Aufgabe sein. Wir machen ja nicht Theater, um die Welt zu verändern.

*1970 in Wien, Sohn des renommierten ungarisch-stämmigen Komponisten Iván Eröd, dessen Bruder und Großeltern 1944 in die KZs Buchenwald und Auschwitz deportiert wurden. Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, Engagements u.a. an der Wiener Kammeroper und der Volksoper, an der Neuen Oper Wien, am Bregenzer, Linzer sowie dem Salzburger Landestheater, Arbeit als Konzertsänger mit bedeutenden Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Sir Simon Rattle und Riccardo Muti; seit 2001 an der Wiener Staatsoper, 2003 im Teatro La Fenice. Eröd erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Eberhard Waechter-Medaille (1988).

Österreichische Musikzeitschrift, 04/2008

Innen und Außen
“Man muss die Figuren immer ernst nehmen”
“Gesund kann jeder gut singen!”