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Innen und Außen
EINFÜHRUNGSTEXT ZU SCHUBERTS WINTERREISE VON ADRIAN ERÖD
Mich hat noch nie jemand gehört, denkt er und wankt hinaus.
Er sieht einen Mund im Mondschein, dieser Mund ist offen, dieser Mund ist offen, dieser Mund singt.
Dieser Mund ist stumm.
„Das Wandern ist des Müllers Lust!“ – hat er das nicht einst gesungen? Damals, als er noch glaubte, liebte und hoffte. Nein, jetzt ist das Wandern Zwang, das Tempo nicht mehr spielerisch, sondern unerbittlich, die Achteln des Klaviers streng aufs Weiterkommen bedacht. Der Frühling ist nur noch Erinnerung, kaum ein Lied, in dem nicht von Schnee, Wind oder Eis die Rede ist. Und parallel zum äußeren Wetter erstarren auch des Wanderers Gefühle.
Ein letztes Mal spricht er seine Geliebte noch an („damit Du mögest sehen, an Dich hab ich gedacht“), dann verliert er jeden Kontakt zur Zivilisation – und erst ganz zum Schluss, mit seinem allerletzten Satz, wird er die Rede wieder an einen Menschen richten, an den Leiermann, mit dem dann vielleicht eine neue Reise beginnen soll. Auch unterwegs hören wir immer wieder die direkte Rede des Wanderers, doch sie gilt dem Bach, der Stadt, den Blättern, der Krähe, den Hunden, dem Wanderstab und den drei Sonnen. Selbst nach innen gehen die verzweifelten Versuche, Antwort auf seine Fragen zu bekommen, seine Tränen ruft er an und in drei Liedern sogar sein Herz. Und plötzlich, etwa auf halbem Wege, tritt er ganz aus seiner Welt heraus und wendet sich an sein Publikum, wie ein Schauspieler, der aus der Rolle tritt: „Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah?“
Der Zusammenhang, die gegenseitige Bedingung von äußerem und innerem Tempo ist vermutlich nie zuvor oder danach so überzeugend komponiert worden wie in den 24 Liedern der Winterreise. Zwischen den gegensätzlichen Ansichten, ob das Gefühl das Tempo bestimmt, oder ob durch das Tempo ein Gefühl evoziert wird, hat Schubert für seinen Wanderer den denkbar schmalen Mittelweg gefunden. In genau der Hälfte der Lieder ist die Geschwindigkeit durch die unterschiedlichen Gehtempi gegeben, in sechs Liedern bestimmen äußere Faktoren, und in sechs Liedern geben die Gefühle das Tempo vor:
Gehtempo
I. wandernd, III. stockend, IV. ruhelos suchend, VIII. stolpernd fliehend, IX. vorsichtig bergab steigend, X. müde wankend, XII. schleppend, XIV. aufwachend zum Gehen zwingend, XVI. umherirrend, XIX. tanzend, XX. wandernd, XXII. trotzig vorwärts
Inneres Tempo
VI. erstes Innehalten, VII. Herzschlag, XI. Traum-Realität-Wunsch, XXI. verzweifeltes Schlaflied, XXIII. feierliche Kontemplation
Äußeres Tempo
II. Wind, V. Blätterrauschen, XIII. Posthornsignal, XV. Flügelschlag, XVIII. Sturm, XIV. Leier
Nur zwei Beispiele, wie subtil und gleichzeitig zwingend Schubert dabei vorgeht:
„Gute Nacht“ und „Der Wegweiser“ haben das gleiche Metrum (2/4), die gleiche Tempoangabe (Mäßig) und die gleiche durchgehende Achtelbewegung – und doch ergibt es sich von selbst, dass nach der langen Reise der Wanderer (und mit ihm der Sänger) nicht mehr den Schwung und die Kraft des Beginns hat, und das Tempo unweigerlich langsamer sein wird.
Ein anderes Beispiel ist die Tempoklammer über den Liedern IV bis VI; so werden die hektisch suchenden Achteltriolen der „Erstarrung“ zu den rauschenden Sechzehnteltriolen zu Beginn des Lindenbaums, und die träumerisch-resignativen Achteltriolen in der Begleitung der letzten Strophe entsprechen den ausladenden zu Beginn der „Wasserflut“
Rinnt klar und gleichmäßig, als sei Schnee hinter dem Auge verborgen, der langsam schmilzt.
Doch zurück zum Wanderer und seinen erfrierenden Gefühlen; nachdem der Vertriebene seine Reise angetreten hat, rauscht, schmilzt und fließt es in allen Liedern bis zum „Rückblick“, immer noch sind Bach und Fluss Symbol für das Innenleben des Leidenden, zumindest in der Erinnerung ist Bewegung, doch im „Irrlicht“ gibt es nur noch ein ausgetrocknetes Flussbett und ab da nichts mehr – nur mehr Wege, Straßen und schließlich Wüsteneien. Ab jetzt ist Winter, das letzte freundliche Grün blitzt noch im Frühlingstraum auf, dann alles in Schwarz-Weiß. In der zweiten Hälfte kommen überhaupt nur noch dreimal Farben vor, das aber umso stärker, als Todeszeichen: die fallenden bunten Blätter (XVI), die roten Feuerflammen am Himmel (XVIII) und schließlich die grünen Totenkränze (XXIII).
Der Tod aber kommt nicht, so sehr der müde Wanderer ihn herbeisehnt – er ist immer noch jung und seine Reise ist noch lange nicht zu Ende. Auch die Flucht in den Wahnsinn gelingt ihm nicht, obwohl er in drei Liedern (VI, XVI, XIX) diese Abzweigung wählen würde, wenn er nur könnte. Schlimmer noch: Am Ende sieht er so klar wie nie zuvor sich selbst, seinen Weg und die Sinnlosigkeit, dem Schmerz seiner Liebe zu entfliehen.
Die Liebe nämlich ist die dritte Sonne aus dem Dreigestirn Glaube – Liebe – Hoffnung, die nicht untergehen will:
Den Glauben hat er schon zu Beginn verloren und bestätigt das kurz vor Schluss, indem er sich trotzend selbst an Gottes Stelle setzt (No.22); die Hoffnung begräbt er unter Tränen (No.16) und verabschiedet sich gleich danach endgültig von ihr, denn „ich bin zu Ende mit allen Träumen“.
Die Liebe zu seinem untreuen Mädchen aber, seiner Müllerin, die jetzt die Braut eines anderen ist, die wird ihm – ob er will oder nicht – das Licht und die Kraft für seinen weiteren Weg geben.
Selbst ein Wegweiser, aber mit heruntergeklappten Flügeln.
Zeigte irgendwo in sich selbst hinein. Nach „Mein Schmerz“ 2 km.
Die Zitate stammen aus dem Roman „Schwedische Hochzeitsnacht“ von Stig Dagerman (Eichborn, Frankfurt a.M., 2010)